Ganzheit und Teilung
Die handwerkliche Umsetzung einer Bildidee beginnt für den Maler mit der Zurüstung seines Bildträgers. Keilrahmen werden bespannt, die Leinwände und Holztafeln grundiert, bevor die eigentlich künstlerische Arbeit in Angriff genommen werden kann. Abgesehen von der Wahl des Materials, seines Formats sind die ersten praktischen Handgriffe – so bezeugen es die Stapel unbemalter Bildträger in den Ateliers – noch weitgehend unabhängig von der Arbeit der künstlerischen Gestaltung selbst.
Bei der Malerin Dorothea Posdiena allerdings beginnt der konkrete Ausführungsprozeß mit der Gestaltung eben des Bildträgers. So hat die Künstlerin in einer unbetitelten, unter den Ziffern »83/90« geführten Arbeit von 1990 zwei unregelmäßig geformte, einander komplementär ergänzende Holztafeln zu einem Bildträger von 26 auf 43,5 cm Größe zusammengefügt. Dasjenige, was der ersten Tafel zu einem regelgerechten gedrungenen Hochrechteck fehlt, eine Aussparung in ihrer rechten oberen Ecke nämlich, wird durch das Pendant der zweiten Tafel ergänzt, die ihrerseits den rechten Bildrand der ersten Tafel zur Vervollkommnung der eigenen, idealen Gestalt nutzt. Den objekthaften, skulpturalen Charakter dieser Werkstücke zu betonen, hat die Künstlerin mit Bedacht Holztafeln von einer Stärke ausgewählt, die bei eher kleinem Format für den bloßen Malgrund unangemessen wäre. Die Tafeln, deren Hängung so bestimmt ist, daß sie einander berühren, werden nur durch eine schmale, aber sehr wohl wahrnehmbare Fuge voneinander getrennt, deren geringfügig unregelmäßiger Charakter von den Materialverletzungen herrührt, die das Sägeblatt bei der Konturierung der einzelnen Form im Holz hinterlassen hat. Das Konturenspiel einander ergänzender Pendants zielt nun aber ab auf eine malerische Komposition, auf deren Anlage hin Art und Form der verschränkten Teilflächen des gesamten Bildgrundes überhaupt erst entworfen worden sind.
Die Gestaltung entwickelt aus zwei Farbtönen, einem hellen, kalten Gelb und einem gebrochenen, hellen Olivgrün, eine Bildstruktur, die – betrachtet man das Gesamt des kompositorischen Gefüges – eine nach rechts verschobene, in sich jedoch symmetrische Kreuzform ergibt, die sich – unter dem analytischen Blick auf die je einzelne Holztafel – aus zwei höchst ungewöhnlichen und nun keineswegs symmetrischen Teilkompositionen zusammensetzt. Die linke der beiden Bildtafeln stellt an ihrer rechten Formatgrenze ein gelbes Rechteck von der Breite der oberen Fehlstelle zur Verfügung, das die Mittelachse der Gesamtkomposition bezeichnet und zugleich als einer der Kreuzarme der gelben Farbfläche gelesen werden muß. Drei ebenso breite, aber kürzere olivgrüne Rechteckformen markieren auf der zweiten Tafel die Ecken ihres idealen Formats; die vierte dieser Eckflächen, zwischen denen die Kreuzform eingeschrieben ist, wird durch den Ausläufer der unregelmäßigen olivgrünen Farbfläche nun wiederum der linken Tafel ergänzt. Gestaltungsergebnis ist mithin eine hochkomplexe Struktur, in der die farbige Fassung die Teilung des hölzernen Bildträgers übergreift, als Voraussetzung der eigenen Flächenform jedoch anerkennt. Das Spiel der Tafelpendants erweist sich als notwendige Bedingung für die hier besondere Farbgestaltung, setzt sich in ihr fort und wird durch das Gefüge der Farbflächen in seiner Komplexität noch überboten, da dieses das Teilungsmotiv auch dort überwindet, wo es sich ihm zu unterwerfen scheint. Die ästhetische Folge dieser beunruhigenden Paradoxie ist es, daß sie die theoretische Gewißheit von Gestaltungsbegriffen wie Ganzheit und Teilung stets von neuem in Frage stellt, zugleich aber – und das ist höchst bemerkenswert – eine ganzheitliche Bildkomposition entwickelt.
Ist damit die konzeptuelle Bedeutung des Werks belegt, so muß doch betont werden, daß die Kunst Dorothea Posdienas nicht mit der didaktischen Vermittlung ästhetischer Kategorien und ihrer Kritik verwechselt und damit auch nicht auf ihre zweifellos vorhandene gedankliche Dimension beschränkt werden darf. Wird das kompositorische Gerüst ihrer Arbeiten – für die »83/90« nur exemplarisch einstehen soll – auch von einer konstruktiven Bildidee getragen, so erschöpft sich diese Kunst doch keineswegs in einer geometrischen Demonstration, deren Ausführung die Künstlerin auch Werkstatt oder Gehilfen überlassen könnte. Im Gegenteil, die Bedeutung ihrer malerischen Arbeiten – und das ist nicht die geringste Überraschung, die dieses Werk seinen Betrachtern bereitet – wird von der handwerklichen Umsetzung, von der handschriftlichen Ausführung durch die Künstlerin getragen: Eine jede der Farbflächen wird sorgfältig erarbeitet, Schicht um Schicht wird aufgetragen, Pinselstrich neben Pinselstrich gesetzt. Untermalungen schlagen durch, die Ränder von Farbflächen und Bildträger bezeugen mit den Zustandsspuren früherer Malschichten einen wenn nicht mühsamen so doch jedenfalls langwierigen Gestaltungsprozeß. Auch von einer monochromen farbigen Fassung der einzelnen Fläche kann nicht die Rede sein: Feinste malerische Nuancierungen, die souveräne Vernachlässigung eindeutiger Flächenbegrenzung und ein verhaltener aber deutlich lesbarer Duktus fordern die Aufmerksamkeit des Betrachters dort, wo ein geometrisches Lehrstück, vom Betrachter einmal begriffen, belanglos zu werden drohte.
Scheint sich die Kunst Dorothea Posdienas vorderhand auf der schmalen Grenzscheide zwischen den Gattungen von Skulptur und Malerei zu bewegen, so zeigt die Analyse, daß gerade die skulpturalen Aspekte dieser Kunst es sind, die eine deutliche malerische Aussage provozieren. Die Bildbegrenzung stellt nicht länger den neutralen Rahmen bereit, durch den hindurch der Blick auf die Darstellung von etwas Anderem gestaltet wäre: Bild und Bildträger sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden, und sind dennoch nicht eins.
© Uwe Fleckner, Text für »shaped paintings – painted shapes«, 1994